Brechen bis zum Engelshaar

HNA – 31.10.2003
Brechen bis zum Engelshaar
Sechstklässler der Kooperativen Gesamtschule beim Flachsbrechen
Von Christoph Papenheim
MORINGEN. „Ihr müsst so lange brechen, bis es aussieht wie Engelshaar.“ Gisela van Hülsen vom Moringer Heimatmuseum hat mit einem Auge ständig die Sechsklässler im Blick, die sich an drei hölzernen Flachsbrechen abmühen. Immer zwei Schüler versuchen, mit den bis zu 150 Jahre alten Holzgeräten aus dem Heimatmuseum getrocknete Flachsbündel so zu brechen, dass sie demnächst am Flachskamm und am Hechelbock die feinen Fäden aus den harten Pflanzenfasern ziehen können.
In der Scheune von Bauer Jürgen Gnosa auf dem Moringer Kirchberg erfährt die Klasse 6f der Kooperativen Gesamtschule Moringen, wie hart es vor 100 Jahren war, den Rohstoff für die Kleidung zu gewinnen. Die Idee, mit Schülern von heute den Weg von der Leinaussaat bis zum Webstuhl nachzuvollziehen, hatte Klassenlehrerin Karin März-Meißner. Dabei arbeitet sie mit dem Heimatverein Moringen und dem Regionalen Umweltbildungszentrum zusammen.
Nina Steinbüchel ist es vom Arbeiten inzwischen so warm geworden, dass sie trotz der zugigen Scheune ihre Jacke zur Seite legt. Simon Strutz und Jannick Kleinsorge sind wieder mit Feuereifer bei der Sache, als ob sie im Akkord arbeiten. Julia drückt so kräftig auf den Hebel der Flachsbreche, dass van Hülsen sie schon bremsen muss: „Ihr sollt den Flachs nur brechen und nicht zerhacken.“
Unterdessen sind mehrere Mädchen beim Boken. Das bedeutet, dass sie die Flachsbündel mit einem Holzhammer weich klopfen, damit sie sich besser brechen lassen. Weil der Stiel des Bokhammers abgebrochen ist, müssen Nina Steinbüchel, Julia Reimer und Hanna Gnosa die Bündel weich trampeln. Das ist ungefähr so, wie in alten Zeiten der Saft aus den Weintrauben gepresst wurde.
Hanna Gnosa erzählt, wie der Flachs nach der Ernte Ende August vorbehandelt wurde. Die Schüler legten ihn zur Taurotte aus: Durch den morgendlichen Tau vergammelten Teile der harten Pflanzenfasern. Während der Flachs früher in der Sonne oder am heimischen Herd getrocknet wurde, baute Hannas Vater Jürgen eine provisorische Trocknungsanlage. Er schichtete die Flachsbündel auf einem alten Postwagen auf und setzte ein Gasgebläse davor.
Hanna und Julia finden das aufwändige Verfahren der Flachsverarbeitung in der Praxis noch anstrengender, als sie es sich in der Theorie vorgestellt hatten. Ihre Einstellung zum problemlosen Kleiderkauf allerdings, geben sie zu, hat sich dadurch nicht geändert.
Gisela van Hülsen blickt auf die eifrigen Schüler an der Flachsbreche und ist erleichtert: „Gut, dass noch kein Finger dazwischen gekommen ist.“